Urlaub trotz Krise?
Die Zeiten der Isolation gehen langsam dem Ende entgegen. Man darf sich wieder aus seinen wohlbehüteten vier Wänden wagen und auch die ein oder andere Verwandt- und Bekanntschaft treffen. Auch die Ländergrenzen sind größtenteils wieder geöffnet – Reisen sind also theoretisch erlaubt. Doch so richtig Urlaub machen in Zeiten solch einer Krise? Ist das ratsam? Wird das schwierig? Kann man das noch genießen?
Zuhause ist es doch immer noch am schönsten, oder?
Nachdem ohnehin schon viel am ersparten Freizeit-Geld in die Renovierung der Wohnung oder des Hauses oder des Gartens geht, kann man also davon ausgehen, dass dadurch und durch einen über mehrere Monate andauernden Frühjahrsputz dieses Jahr jedes Zuhause in ein kleines, persönliches Paradies verwandelt wurde. Wozu also in ein überteuertes Hotel oder Airbnb investieren, wenn es doch daheim jetzt auch schön ist? Vielleicht sogar am schönsten?
Diesen Sommer machen wir uns also gefasst auf einen Urlaub ohne lange Anreisezeiten. Stattdessen packen wir unsere Jausn in den Rucksack, schlüpfen in unsere bequemsten Sneakers und starten in ein Abenteuer gleich vor der Haustür. Die Kamera nicht vergessen, denn – was es nicht alles zu sehen gibt!
Urlaub in der eigenen Stadt
Wir machen einen kleinen Kurz-Urlaub und begeben uns also auf eine touristische Erkundungstour durch unsere eigene Stadt – nein, wir wollen ganz am Anfang beginnen – unser eigenes Viertel. Es geht mit den altbekannten Wegen und Stegen los. Da, wo wir schon tausendmal entlang gehastet sind, weil wir zur Arbeit mussten, zum nächsten Arzttermin oder noch kurz zum Supermarkt, der in fünf Minuten zu macht. Aber dieses Mal, schauen wir uns ein wenig genauer um.
Nein, man muss jetzt nicht jeden Meter stehen bleiben, um jeden Millimeter zu inspizieren. Es geht darum, mal einen Eindruck von der Lage zu bekommen. Der Wohnlage sozusagen. Mancher wird schnell feststellen, dass es viel schönere Häuser gibt, in denen man für viel zu viel Miete wohnen kann, mancher wird aber auch merken, dass man es selbst meist gar nicht so schlecht hat. Erste Erkenntnis des Tages geschafft.
Neue Wege einschlagen
Eigentlich müsste man jetzt dem Straßenverlauf folgen, um an seine üblichen Ziele zu gelangen, was aber wenn man jetzt erst mal an der Kreuzung Halt macht, um eine andere Richtung zu wählen? Und so geht man da hin, wo es eigentlich nicht sonderlich vielversprechend aussieht und wo man sich ab vom Schuss und der üblichen Route bewegt.
Da ist ein Kiosk, da ist ein Getränkemarkt, da ein kleiner Bäcker mit Gebäck vom Vortag – aha, sowas gibt’s bei uns auch? Dann geht es weiter an der nächsten Kreuzung. Ja, da kenn ich mich wieder aus, da habe ich schon mal ein Paket in dem Tierfutterladen abgegeben, aber weiter bin ich dann nicht mehr gekommen und da hinten sieht es so aus, als wäre ich da noch nie gewesen. Ein nettes Café – in das wollte ich schon immer gehen und hab’s nie geschafft – bis jetzt! Darauf einen maskierten Coffee To Go mit viel Abstand bitte.
Ein paar Straßen weiter ist man erstaunt über die schöne Architektur in der Gegend. Dass es hier ganz hübsch ist, wusste man schon immer, aber die Fassade von dem Haus ist einem noch nie aufgefallen. Oder dieser feine Giebel. Oder diese eigenartige Haustür. Zeit für ein „Ich steh vor einer bunten Wand“-Bild. Ein Geheimtipp: Möglichst viele offene Tore zu Hinterhöfen finden und einen Blick hineinwerfen. Man muss sich ja nicht zum Stalker, aber ein kleiner Einblick ist erlaubt: Sehen Sie hin und erfahren Sie wie Ihre Artgenossen in Ihrer eigenen Stadt so leben. Pflegen sie andere Bräuche und Kulturen oder sind sie gar nicht so seltsam, wie man immer vermutet hatte? Das ist die zweite Erkenntnis des Tages.
Die Verlierer der Krise
Noch eine Straße weiter sieht man das Schild des italienischen Restaurants „da Giovanni“, dessen Pasta auf Google immer so gut bewertet wurde – und Sie können es bestätigen, Sie haben sie mehrmals gekostet. Gespannt gehen Sie auf den Laden zu, um nachzusehen, was für eine nette Nachricht Giovanni wohl für seine Kunden auf den Zettel an der Tür verfasst hat. Nett ist die Nachricht, ja, aber auch traurig, denn Giovanni macht zu. Die Krise hat ihn stärker erwischt als gedacht, irgendwas mit Verwandtschaft in Italien und tiefstem Bedauern… Das ist schade. Aber auch hier wieder eine bedeutende Erkenntnis: In einer Gesellschaft des Überflusses gibt es auch Vergänglichkeit und dann merkt man doch, dass einem etwas fehlt.
Fragen und auch Antworten?
An was es mir heute nicht fehlen wird, sind die getanen Schritte auf dem Schrittzähler meiner Uhr. Yes. Die 10.000 sind schnell geknackt. Was wird das für ein Schlaf heute Nacht, erledigt von der Wanderung durchs Viertel, mit schweren Füßen und einem Kopf, dessen Gedanken ausnahmsweise einmal nicht um die aktuelle Sinnkrise schweifen, sondern um die Eindrücke des vergangenen Tages. Nicht nur die, die auf der Kamera festgehalten sind, auch die Bilder im Kopf.
Damit sind nicht ausschließlich positive Dinge gemeint, natürlich sieht man auch einiges unschönes, wenn man so unterwegs ist. Etwa die vermüllten Sitzplätze an den Rändern von Parks und Straßen – können die Menschen so schlecht zielen oder waren da nur die Krähen wieder auf der Suche nach Delikatessen wie Pizza, Breze und Croissant? Wahrscheinlich beides ein bisschen. Oder die Kinder, die spielen – und zwar auf ihren Smartphones – und sich gegenseitig Digga nennen.
Was ist nur mit der Jugend von heute los oder ist das einfach nur die Jugend von heute? Woher will man das wissen? Oder der kleine Kläffer, der die ganze Zeit bellend auf und ab hüpft, als hätte ihn jemand nach seiner Meinung gefragt? Aber vielleicht hat ihn noch nie jemand nach seiner Meinung gefragt und deswegen plärrt er sie so laut raus… Man weiß es nicht, man beginnt aber sich darüber zu wundern.
Neue Blickwinkel auf unsere Umwelt
Und nachdem man so viel über das sich selbst nachgedacht hat, als man eingepfercht war in einer Zweizimmerwohnung ohne Balkon, denkt man nun eben einfach mal über andere Dinge nach. Und das ist doch schon mal etwas Gutes.
Die Fotos lass ich bei dm entwickeln und verschicke sie als Postkarten an die Leute, die mein Viertel noch nicht so gesehen haben, wie ich. Vielleicht wollen sie ja ihren Urlaub auch mal dort verbringen. Nach dem Spaziergang im eigenen Viertel, dürfen auch weiter entfernte Gebiete erforscht werden. Einfach aufs Rad und einen anderen Weg als üblich einschlagen. Und wer weiß, vielleicht bringen uns diese neuen Blickwinkel auf unsere Umwelt auch ganz neue Sichtweisen auf viele andere Dinge.
P.S.: Ich freue mich übrigens am meisten, als ich sehe, dass mein Lieblingskino am Wochenende die Pforten für ein paar Stunden öffnet, um Popcorn und anderen Kino-Fraß zu verkaufen. Es gibt sie noch, die gute Dinge.