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März 2021

Stottern in der Agentur

Die Angst zu sprechen überwinden

Lesezeit: 6 Minuten

Gezeichnete Figuren mit Sprechblasen

Stottern und Agentur? Geht das?

Manchmal werde ich in Videokonferenzen darauf hingewiesen, dass wohl meine Verbindung etwas hakt, man hätte mich kurz nicht verstanden. Es wird überprüft, ob das LAN-Kabel richtig steckt. Irritierte Blicke: „Könnten Sie das bitte wiederholen?“.

Ein Schmunzeln kann ich mir bis heute nicht verkneifen, wenn ich dann verkünden darf: „Nein, dass bin nur ich. Ich stottere.“ Dann ist es besonders wichtig, die Stimmung mit einem Lächeln und einer kurzen Erklärung über meine Sprechstörung aufzulockern. Unangenehm ist es meistens nur für die anderen. Doch hat man diese Hürde einmal überwunden, ist das restliche Gespräch dafür umso entspannter. Das erste große Fettnäpfchen haben wir gemeinsam überstanden – so etwas verbindet.

Im Agentur-Alltag wird viel und häufig gesprochen. Besonders wenn die Kollegen und Kunden im Homeoffice sind, entstehen viele Anlässe, um „kurz mal anzurufen“. Dies gab mir den Anlass, über eine meiner größten Ängste zu sprechen, die ich in vielen Jahren Arbeit besiegen konnte. Die Angst zu sprechen.

Sich nicht von der Angst beherrschen lassen

Das Sprechen ist eine der komplexesten motorischen Fertigkeiten, die wir im Alltag nutzen. Gleichzeitig ist es für viele das wichtigste Mittel zur Kommunikation mit anderen Menschen. Das Stottern ist unter den Sprechstörungen die Bekannteste, da die meisten ähnliche Symptome auch aus ihrem Alltag kennen, wenn sie z. B. nervös sind oder sich gedanklich verhaspeln.

Diese Alltags-Stotterer, die wir kennen, haben aber recht wenig mit der meist genetischen Krankheit gemeinsam. So wissen Stotterer ganz genau, was sie sagen möchten und stottern nicht, weil sie aufgeregt wären, sondern sind höchstens aufgeregt, weil sie wissen, dass sie gleich stottern müssen.

Die Angst vor Telefonaten oder vor Sprechsituationen mit vielen Zuhörern ist zwar nicht selten, gilt jedoch meist auch für nicht Stotternde. Dies verleitet einige dazu kommunikative Berufe zu vermeiden.

Als ich mit 17 das erste Mal die Telefonzentrale in einer Agentur übernommen habe, war auch mir Flau im Magen. Denn am Telefon sieht dich niemand Stottern. Ist der Ton also weg, kommt es manchmal sogar vor, dass Menschen (verständlicherweise) einfach auflegen. Doch wie mit allem, lernt man damit zu leben und man wird von Telefonat zu Telefonat immer besser. Mit einigen Tricks und den richtigen Satzumstellungen konnte ich mit der Zeit dann doch recht flüssig und kompetent ein Gespräch führen.

Seit über 7 Jahren arbeite ich schon als Freelancer oder in Agenturen im Bereich Marketing und PR. Persönlich habe ich noch nie einen anderen Menschen getroffen, der stottert (außerhalb von Sprech-Therapien). Überraschend ist das nicht, denn besonders viele von uns gibt es nicht.

In Deutschland gibt es rund 800.000 Stotterer. Weltweit sind es auch ungefähr 1% der Bevölkerung.
(Quelle: Selbsthilfe Stottern, Link)

Wer nicht wagt, der nicht gewinnt

Trotz des Stotterns oder vielleicht sogar gerade deswegen, haben mich besonders die Berufe angesprochen, in denen ich kommunizieren muss. Die Flucht nach vorne. Lernen damit klarzukommen, wenn der Redefluss ins Stocken gerät. Denn eine Heilung gibt es nicht, nur viele interessante Wege mit den Blocks (so nenne ich mein Stottern) umzugehen.

Ich musste mich mit Themen beschäftigen, die für viele selbstverständlich sind. Beim Logopäden lernte ich, wie komplex das Sprechen eigentlich ist und welche Wichtigkeit z. B. einzelne Laute oder Worte in einem Satz haben. Auch wenn ich diese Reise nicht freiwillig angetreten bin, hat das Stottern mir doch Einiges über Kommunikation beigebracht, was ich sonst nie gelernt hätte. Bis heute nutze ich einige der Fertigkeiten beim Texte schreiben oder um packende Präsentationen zu halten.

Das Privileg des Sprechens

Manch einer würde sagen, ich hatte Glück im Unglück. Denn auch wenn ich stottere, gaben mir sehr viele Unternehmen und Menschen die Möglichkeit Positionen einzunehmen, in denen man viel spricht. Und das ist nicht selbstverständlich. Es ist nämlich für keinen Geschäftsführer leicht, den einzigen Mitarbeiter ans Telefon zu lassen, der stottert – geschweige diesen die wichtigste Pitch-Präsentation des Jahres halten zu lassen.

Solche Konfrontationen sind aber unglaublich wichtig für mich, um immer wieder aufs Neue meine Sprechtechniken zu üben. Wie mit allem, was man lernt, gilt auch beim flüssigen Sprechen für Stotterer: „Use it or lose it“. Wer besser werden will muss sprechen – viel und häufig.

Daher bin ich auch dankbar für meine Kollegen, neue und alte, die über die Jahre mein ganzes Gelaber ertragen mussten. Ganz unbewusst, beteiligen sich die Menschen um mich herum genau an diesem Fortschritt und geben mir durch die Normalität, die gelebt wird, alle Möglichkeiten.

Über die Jahre entwickeln viele Menschen mit Sprechstörungen eine Angst gegenüber dem Sprechen und Vermeiden dann bestimmte Hobbies oder Berufe. Diese Angst zu überwinden ist die größte Herausforderung. Hat man das einmal geschafft, wird aus der „Behinderung“ schnell eine „Stärke“. Die Stärke sich weiterzubilden und Engagement zu zeigen. Es ist nicht das Sprechen, was mich ausmacht, sondern die Inhalte.

Und hier noch ein paar praktische Tipps für die 1% da draußen, die diesen Artikel gefunden haben, weil sie nach „Stottern“ gesucht haben.

Stottern und Bewerbungsgespräche

Ich persönlich habe es nie für nötig gehalten, mein Stottern in meinen Bewerbungsunterlagen zu thematisieren. Die meisten Menschen haben sowieso eine ganz andere Vorstellung vom Stottern als das, was sie dann bei mir erleben werden. Spätestens im Bewerbungsgespräch spreche ich das Thema, zwangsläufig, an.

Ich versuche meinem Gegenüber direkt zu zeigen, wie ich mit meinem Handicap umgehe.
Vergessen Sie nicht, dass Ihr Gegenüber nicht weiß, wie dieser mit der unbekannten Situation umgehen soll. Sie sind mit hoher Wahrscheinlichkeit, der erste Mensch, den er mit einem Stottern trifft. Erklären Sie, wie sich Ihr Stottern bemerkbar macht. Stottern wird sonst häufig als Nervosität interpretiert, was Sie in einem Bewerbungsgespräch natürlich nicht wollen.

Stottern und Präsentationen

Überall, wo ich eine längere Zeit vor einem Publikum sprechen muss, starte ich meist mit dem Satz: „Im Verlauf der Präsentation könnte ich an der einen oder anderen Stelle stottern, dies ist ganz normal. Sollten Sie etwas akustisch nicht verstehen, zögern Sie nicht mich zu fragen.“

Dabei sollten Sie immer auf die jeweilige Situation eingehen. Übernehmen Sie nur einen kleinen Teil einer Präsentation ist es wohl ratsamer, ohne Intro zu starten, wenn Sie nur kleinere Blöcke haben. Die Zuhörer werden sehr schnell verstehen, dass Sie „nur“ stottern, wenn Sie sonst keine weiteren Anzeichen von Aufregung zeigen. Ich habe immer noch Ticks, die mein Stottern begleiten (Kopfbewegung, Blinzeln, auf der Stelle hin und her tapsen). Auch wenn ich versuche diese Ticks zu unterdrücken: Zuhörern hilft dies mein Stottern von meinem normalen Redefluss zu unterscheiden.

Praktisch helfen mir weiche Silbeneinsätze, um Blöcke zu vermeiden. Am Anfang einer Silbe mit „Blockpotenzial“ fange ich leiser an und ziehe die Silbe leicht in die Länge.

Am Ende bleibt zu sagen, dass ich mich nie wirklich eingeschränkt gefühlt habe. Auch wenn ich mich bei anfänglicher Irritation manchmal erklären muss, tue ich das sehr gerne und spätestens nach den ersten überstandenen Blöcken ist das Stottern fast wie vergessen. Vielleicht ermutigt das auch den einen oder anderen, der mit seiner Macke zu kämpfen hat – denn die Welt dreht sich nicht um Sie oder mich… und das ist richtig und gut so.